Die Titelseite zieren eine mit Blattgold ausgefüllte Initiale, Blüten und Blumenranken. Der Beginn der einzelnen Teile der Sammelhandschrift ist mit eingeklebten, farbigen Nadelköpfen im Buchschnitt gekennzeichnet.
Mittelalterliche und frühneuzeitliche Handschriften
Die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Handschriften gelangten zum größten Teil durch Schenkungen und Nachlässe in den Bestand. Ursprünglich wurden sie in der Handschriftenabteilung der Bibliothek aufbewahrt und wurden erst bei der Neuordnung der Sammlungen nach 1946 in das Archiv übernommen. Sie demonstrieren auf anschauliche Weise die Veränderungen bei der Herstellung von handgeschriebenen Dokumenten, die mit der Entwicklung des Buchdrucks einhergingen.
Mittelalterliche Handschriften sind wertvolle Zeugnisse für die hohe Kunstfertigkeit der Buchproduktion vor der Einführung des Buchdrucks. Der sorgfältig auf Pergament geschriebene Text ist in Rechtecken und Kolumnen angeordnet, und es gibt klar abgegrenzte Randbereiche. Ein Titelblatt mit Angaben zu Verfasser, Entstehungsort und -zeit fehlt hingegen, oft wurden mehrere Manuskripte zu einem Sammelband zusammengebunden. Die Einbände bestehen aus Leder oder Pergament und sind häufig mit Schließen und Eckbeschlägen aus Metall versehen. Noch heute bestechen die Handschriften jedoch vor allem durch ihre aufwändigen Illuminationen. Initialen, Buchstaben am Anfang eines Textes oder Abschnitts, werden vergrößert und oft mehrfarbig hervorgehoben. Sie können mit Blattgold unterlegt sein und ganze szenische Darstellungen enthalten. Miniaturen illustrieren den Text. Ranken aus Blüten und Blättern, aber auch figürliche Darstellungen, die bisweilen von den Initialen ausgehen, können weit in den Seitenrand hineinlaufen und das gesamte Blatt verzieren.
Mit der Entstehung des Buchdrucks änderten sich die charakteristischen Merkmale der Handschriften. Die Einbände der frühneuzeitlichen Handschriften wurden schlichter oder weggelassen, der Buchschmuck wurde zugunsten von Illustrationen reduziert und findet sich nun vor allem auf den zunehmend gebrauchten Titelblättern. Die in mittelalterlichen Handschriften üblichen gebrochenen Buchschriften wurden durch Schreib- bzw. Kurrentschriften abgelöst. Als Beschreibstoff ersetzte Papier das teure Pergament.
Evangelium Nicodemi, Visiones, Institutio puerorum. Sammelband. Pergament, geprägter Pergamenteinband mit Schließen. o.O., um 1500
Die Sammelhandschrift aus dem 15. Jahrhundert beginnt mit dem sogenannten Nikodemus-Evangelium, einem apokryphen Passionsevangelium mit einer reichen Wirkungsgeschichte bis in die Frühe Neuzeit. Darüber hinaus übte das Nikodemus-Evangelium erheblichen Einfluss auf die mittelalterliche Kunst und Literatur aus. Es wird um 310–320 oder in die Mitte des 4. Jahrhunderts datiert. Der erste Teil ist auch als „Pilatusakten“ (lateinisch Acta Pilati) bekannt. Die Schrift besteht aus drei Teilen: 1. Darstellung des Prozesses und der Kreuzigung Jesu (Pilatusakten) 2. Gefangennahme und Befreiung des Joseph von Arimathäa, 3. Abstieg Christi in die Unterwelt (lateinisch: Descensus Christi ad inferos).
Breviarium franciscanum (pars hiemalis). Pergament, Wildledereinband mit Langriemenschließen. Deutschland, 15. Jahrhundert
Das Stundenbuch ist mit reich verzierten Initialen ausgestaltet, von denen sich Blüten um die Seitenränder ranken. Die aufgeschlagene Seite zeigt ein F mit dem Bild der Mutter Gottes auf der Mondsichel, die mit Blattgold hinterlegt ist. Der Bucheinband ist mit einem Hölzchen versehen, an dem mehrere Lesebändchen befestigt sind.
Collectio legum Anglorum. Pergament, Holzdeckeleinband, restauriert. England, 14. Jahrhundert
Die Sammlung englischer Gesetzestexte beginnt mit einer Abschrift der Magna Carta vom Ende des 13. Jahrhunderts. Von der Datierung zeugt die erste Initiale, die wahrscheinlich ein Ganzkörperporträt des englischen Königs Edward I. (1239–1307) zeigt. In seiner Regierungszeit hatte er die erstmals 1215 verabschiedete Rechtsakte bestätigt. Sie sicherte dem Adel und der Kirche mehr Macht und größere Unabhängigkeit gegenüber der Krone zu. Die Handschrift ist in beinahe verschwenderischer Weise mit Verzierungen ausgestattet. Es finden sich nicht nur auf jeder Seite in Rot und Blau gehaltene Initialen, sondern auch über 70 Schmuckinitialen mit Bändern und Arabesken, die sich fast um das gesamte Blatt ziehen. Vögel, Schlangenköpfe, Dämonenfratzen, oft karrikaturhaft ausgeführt, zeugen vom Humor des ausführenden Künstlers.
Die Pergamenthandschrift, bestehend aus 438 Blättern, wurde 1767 von dem Missionar Johann Zacharias Kiernander (1710–1799) aus Kalkutta der Bibliothek des Waisenhauses geschenkt.
Weitere Initialen aus der Collectio legum Anglorum (zum Vergrößern anwählen)
Mathias Understainer: Cathecißmus oder KhinderLeer Für die Jungen Khinder geordnet und zusammen geloßn worden [...] Rattenberg, 1558
Diese Handschrift besticht durch ihre kalligraphisch gestaltete Schrift, die viele verzierte Buchstaben aufweist, und durch ihren Seitenschmuck. Die inneren Seiten des Einbanddeckels sind bemalt. Der vordere Innendeckel zeigt eine den Krummstab tragende, vor dem gekreuzigten Christus knieende weibliche Gestalt, auf die sich möglicherweise der in einen Goldrahmen gefasste Name Marina von Pirtzing bezieht. Der hintere innere Einbanddeckel ist mit einem Adelswappen geschmückt. Inhaltlich weist der Katechismus sowohl Merkmale der katholischen als auch der protestantischen Glaubenslehren auf. Ein Eigentümervermerk auf der Titelseite ist mit I. C. B. 1704 angegeben.
Wappenbuch mit den Wappen der Nürnberger Burggrafen. o.O., nach 1527
Die Handschrift gelangte vermutlich aus dem Nachlass Carl Hildebrands von Canstein (1667–1719) in den Besitz der Bibliothek des Halleschen Waisenhauses und geht auf die Sammlung seines Vaters Raban von Canstein (1617–1680) zurück. Dieser stand im Dienst der Kurfürsten von Brandenburg. Das Buch enthält kurze Lebensbeschreibungen der Nürnberger Burggrafen und zeigt deren Wappen. 1190/91 wurde Friedrich III. von Zollern (um 1139–1201) mit der Burggrafschaft Nürnberg belehnt. Er ist der Ahnherr der Brandenburger Kurfürsten aus dem Hause Hohenzollern.
Domus Spiritus Sancti. Federzeichnungen nach den Kupferstichen in dem Werk Speculum Sophicum Rhodo-Stauroticum
Bei dem Manuskript handelt es sich vermutlich um eine Abschrift des 1618 erschienenen Drucks »Speculum Sophicum Rhodo-Stauroticum« von Daniel Mögling (1546–1603). Laut Vermerk auf dem Titelblatt wurde es der Bibliothek des Waisenhauses von dem Pfarrer Johann Christian Nehring (1671–1736) geschenkt. Die Zeichung »Haus des Heiligen Geistes« enthält zahlreiche Anspielungen auf die Rosenkreuzer.